Inhaltsverzeichnis
1. Mögliche Gründe für einen Kontaktabbruch
1.1 Exemplarische Beispiele für einen Kontaktabbruch
Beispiel 1:
Karin (alle Namen geändert) ist Oma zweier entzückender Enkelinnen von 3 und 6 Jahren. Sie wohnt in einer Kleinstadt, in der auch ihr Sohn mit seiner Familie wohnt. Seine Wohnanschrift kennt sie nicht. Die Mädchen sieht sie in größeren Abständen – meist auf die Initiative der Schwiegertochter hin. Die beiden werden dann auf einem Supermarkt-Parkplatz übergeben. Ihre Nachrichten oder Anfragen über WhatsApp oder auf dem Anrufbeantworter, werden in der Regel nicht beantwortet.
Beispiel 2:
Klaus hat zwei seiner Kinder im Zuge von Trennungen verloren. Einen leiblichen Sohn. Und einen Sohn, für den er mehrere Jahre lang ein liebevoller Stiefvater war und der ihm sehr ans Herz gewachsen war. Nach den Trennungen von den Müttern der beiden brach der Kontakt schnell ab. Beim leiblichen Sohn war das so vereinbart worden, weil es damals als die einfachere Lösung für alle Beteiligten erschien. Beide Jungen sind heute längst erwachsen. Von einem hat er nie wieder etwas gehört. Vom anderen weiß er, dass es zwei Enkelkinder gibt. Immer wieder denkt er an sie und wünscht sich, wenigstens ab und an von ihnen zu hören.
Beispiel 3:
Einen Tag nach seinem 18. Geburtstag packte Steven seinen Koffer und verschwand nahezu spurlos aus dem Leben von Detlef und Susanne. Für beide völlig überraschend. Das ist jetzt 13 Jahre her. Nie wieder haben sie ein Wort von ihm gehört. Er soll damals ein Jahr nach Australien gegangen sein, per travel and work. Er soll jetzt in Hamburg leben. Er soll verheiratet sein und drei Kinder haben. Sagt der Buschfunk.
Beispiel 4:
Vor kurzem schrieb mir Maike. Vor vier Monaten wurde ihr Sohn geboren. Etwa zu dieser Zeit teilte ihr ihre Mutter mit, dass sie den Kontakt abbrechen werde. Sie wolle sogar den Enkel nicht einmal kennenlernen. Dumm, wenn daraus in einem kleinen Ort ein Versteckspiel wird, falls man sich doch zufällig über den Weg läuft.
1.2. Was sind Gründe dafür, wenn erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern teilweise oder völlig canceln?
Wurden sie geschlagen oder missbraucht? Waren die Eltern Alkoholiker? Wurden sie nicht geliebt und angemessen versorgt? Dann könnte fiele es leichter, diesen Entschluss zu verstehen.
Eikmann * schreibt auf Seite 8 „Die Eltern sind alles andere als Rabeneltern, eher wollten sie Freunde ihrer Töchter und Söhne sein. Vielleicht haben sie sogar zu verständnisvoll erzogen oder Auseinandersetzungen gescheut, und diese Haltung rächt sich.“
Für mein Buch über Großeltern ** habe ich zahlreiche Menschen interviewt. Ich habe keine allumfassende Antwort auf die Frage nach den Gründen, die es vermutlich gar nicht geben kann, da die einzelnen Menschen und ihre Geschichten viel zu verschieden sind.
Aber ich kann ein paar Puzzleteilchen ins Gesamtbild einfügen.
- Erwachsene Kinder sagten: Meine Eltern tun mir nicht gut. Wir haben eine toxische Beziehung miteinander. Davor will ich mich schützen. Unter einer toxischen Beziehung wird heute eine Beziehungsdynamik verstanden, bei der die Beteiligten sich immer wieder in dysfunktionale Muster miteinander verstricken. Ständige Kränkungen, Streitigkeiten und emotionaler Dauerstress sind die Folge. Teilweise sollen die Enkelkinder davor geschützt werden, wobei sie ja in der Regel gar nicht Teil dieser Dynamik sind. Aber natürlich geht der Streit zwischen Eltern und Großeltern nicht spurlos an ihnen vorbei.
- Eltern sagten: Ja, wir haben zu wenig miteinander gestritten. Unser Harmoniestreben hat so manches glattgebügelt, das einmal hätte ausgesprochen werden müssen.
- Erwachsene Kinder erzählten: An dem Friede-Freude-Eierkuchen bspw. zu Weihnachten ersticke ich. Das fühlt sich so unehrlich und falsch an. Aber mit meinen Eltern kann ich ja nicht darüber sprechen. Sie weisen alles zurück und geben immer mir die Schuld.
- Andere erwachsene Kinder beklagten: Ich fühlte mich im Kontakt mit meinen Eltern immer unverstanden, als Mensch nicht gesehen. Sie vermittelten mir immer wieder das Gefühl, alles falsch zu machen und eine Enttäuschung zu sein. Das war schon in meiner Kindheit und Jugendzeit so.
- Meine Eltern glauben zu wissen, was für mich und mein Leben gut ist. Immer wieder drängen sie mich in diese Richtung, versuchen mich zu überzeugen. Meine Argumente und Bedürfnisse zählen nicht. Ich habe keine Lust mehr, mich ständig erklären und rechtfertigen zu müssen.
- Unsere Eltern haben uns Geschwister nie gleich und fair behandelt. Immer wurde meine Schwester bevorzugt, weil sie fleißiger, angepasster und besser in der Schule war. Jetzt ist das bei den Enkeln genauso. Ich habe einfach keine Lust mehr, da länger mitzuspielen.
Die Gründe für einen Kontakabbruch zu verstehen, kann sehr hilfreich sein
1.3 Großeltern verstehen häufig die Gründe für einen Kontaktabbruch nicht
Die Großeltern werden häufig ohne eine klare Erklärung der Gründe zurückgelassen. Zumindest liefen voran gegangene Diskussionen offenbar so schief, dass die Gründe der erwachsenen Kinder nicht wirklich von den Großeltern verstanden worden sind. Großeltern grübeln dann oft jahrelang darüber nach. Dadurch können sie das Kapitel sozusagen nicht abschließen. Sie leiden. Nicht wenige erkranken körperlich und/oder seelisch.
Bei den betroffenen „Kindern“ erlebte ich häufig: Selbst, wenn sie meinen, diesen Schritt wie in einem großen Befreiungsschlag gehen zu müssen, sind sie danach nicht wirklich frei von dem zugrundeliegenden Problem. Wenn es ungelöste Probleme mit Eltern gab und gibt, wenn erwachsene Kinder sich von ihnen abhängig fühlten, manipuliert, immer wieder gekränkt, übergriffig behandelt – dann ist das alles genau so wenig aus der Welt, wie wenn sie den Kopf in den Sand stecken würden. Ein familiäres Zusammensein nicht mehr aushalten zu können, den eigenen Kindern die Großeltern vorenthalten zu müssen, das bedeutet letztendlich, die Großeltern bestimmen in gewisser Weise noch heute, was sein darf und was nicht.
Es ist für erwachsene Kinder manchmal ein schmerzlicher und langwieriger Prozess zu begreifen, dass sie die gewünschten perfekten Eltern nie hatten und dass sie von ihnen niemals mehr bekommen werden, was sie damals als Kind gebraucht hätten. Niemand kann seine Vergangenheit umschreiben! Allemal kann es gelingen, jetzt und heute eine neue Beziehung zwischen zwei oder drei erwachsenen Menschen herzustellen, die sich gut und richtig anfühlt.
Die Scheidung der Eltern kann zum Kontaktabbruch zu den Enkelkindern führen
1.4 Scheidung der Eltern – Kontaktabbruch zu den Enkelkindern
Enkelkinder können ihren Großeltern auch bei einer Trennung der Eltern „verloren gehen“. Vielleicht ist nach der Trennung kein Kontakt zur Familie des Elternteils, bei dem die Kinder nicht leben, mehr erwünscht. Besonders häufig ist das der Fall, wenn dieser Elternteil selbst keinen Kontakt mehr zu den Kindern hat. Leider gelingt es so manchen Eltern nicht, mit den im Laufe einer Trennung entstandenen Verletzungen und Loyalitätskonflikten zu den Ursprungsfamilien so umzugehen, dass eigene Kränkungen und Empfindlichkeiten auf beiden Seiten so zurückgestellt werden können, dass den Kindern die Großeltern von beiden Seiten/ Fronten erhalten bleiben können.
Aber auch die Großeltern haben sich vielleicht aus Loyalität zu ihren Kindern in der Trennungszeit mit ihren Urteilen, Wertungen und Positionierungen für eine Seite zu wenig zurückhalten können, so dass viel Porzellan zerschlagen wurde. Meist sind dann in den Köpfen aufgrund oft (relativ) einseitiger Schuldzuweisungen Feindbilder entstanden, obwohl eigentlich klar ist, dass das Scheitern einer Beziehung immer mit beiden Partnern zu tun hat. Es ist offenbar nun einmal einfacher, jemandem alle Schuld zuschreiben zu können. Besonders, wenn dieser keine Chance zur Rechtfertigung hat.
Anna Pelz *** gibt an, dass in Deutschland 30 000 bis 50 000 Kinder jährlich nach einer Trennung den Kontakt zu einem Elternteil verlieren und damit in der Regel gleichzeitig zu diesem Zweig der Familie, somit auch den Großeltern.
Im Übrigen hörte ich von sehr vielen Großeltern den Satz: „Ich sage lieber gar nichts mehr. Sonst darf ich meine Enkel nicht mehr sehen.“ Die (im Raum stehende) Drohung mit einem Kontaktabbruch schwebt dann wie ein Damoklesschwert über den Großeltern.
1.5 Unterschiedliche Erziehungsansichten können die familären Kontakte reduzieren
Ich hörte in meinen Interviews jedoch auch einige Geschichten, bei denen ich den Eindruck gewann, dass die Großeltern offenbar noch nicht verstanden hatten, dass sie mit der Geburt der Enkelkinder in der Familienhierarchie in die zweite Ebene gerutscht sind. Sorgeberechtigt sind die Eltern. Die haben wie damals die Großeltern das Recht, über ihre Erziehungsmethoden zu entscheiden. (Manchmal ist es hilfreich, sich einmal zurückzuerinnern, wie es einem selbst mit den wohl gemeinten Ratschlägen der eigenen Eltern als Großeltern ergangen ist und was eher nicht hilfreich war.)
Wenn die Kinder keine christliche Erziehung der Enkel wollen, sollten Oma und Opa nicht heimlich mit denen einen Gottesdienst besuchen. Wenn die Eltern bemüht sind, für eine Zucker freie Ernährung zu sorgen, sollten die Großeltern nicht heimlich Süßigkeitenorgien feiern. Und erst recht nicht sagen: Sags aber nicht Mama! Für mich ist es auch nicht okay, wenn Großeltern vor Feiertagen verkünden: Wir wollen aussuchen, was und wie viel wir schenken. Es ist schließlich unser Geld!
Großeltern sollten also weder indirekt noch direkt die Erziehung der Eltern boykottieren. Sie sollten immer nach einer einvernehmlichen Lösung und nach Kompromissen suchen. Das gilt für alle den Eltern besonders wichtigen Bereiche. In Kleinigkeiten dürfen die Kinder durchaus auch erfahren, dass Menschen Dinge verschieden handhaben können, wenn es wechselseitig einen Respekt für diese Unterschiedlichkeiten gibt.
1.6 Was hilft Betroffenen bei einem Kontaktabbruch?
Wenn Sie selbst von einem Kontaktabbruch betroffen sind, hilft es manchmal, einmal in die Haut der Kinder zu schlüpfen. Was erzählen diese denn anderen Menschen, warum sie den Kontakt abgebrochen haben? Vermutlich werden Sie sich in dem Bild, das da von Ihnen gezeichnet wird, nicht wirklich wiedererkennen. Aber selbst in einer ungerechtfertigten Kritik steckt immer ein Körnchen Wahrheit. Es wäre sehr hilfreich, dieses zu finden. Suchen Sie nicht nach einem Anlass, einer Situation, einem Grund. Wenn ich mich auf die Suche nach Erklärungen mache, zeichne ich in der Regel ein Mindmap mit allen Faktoren, die eine Rolle gespielt haben.
Dabei wiederum kann Ihnen helfen sich bewusst zu machen, dass zwei Menschen von einer Situation sehr unterschiedliche Erinnerungen haben können. Das kennt man aus Untersuchungen an Zeugen von künstlich inszenierten Unfällen. Hier geht es um ein relativ einfaches Unfallgeschehen. Wie komplizierter ist es erst bei zwischenmenschlichen Situationen und wenn starke Gefühle eine Rolle spielen. In der Beratungssituation vermittelten mir beide Elternteile nicht selten völlig verschiedene Bilder der gleichen Situation. Es ist im Nachhinein unmöglich aufzuklären, wer mit seiner Schilderung Recht hat. Solche Versuche sollten unterbleiben. Menschen erleben Situationen eben unterschiedlich. Das eigene Bild von der Welt bestimmt wesentlich unsere Wahrnehmung (Unser Gehirn sucht immer eher nach einer Bestätigung unseres Weltbildes.) Dazu kommt, dass mit jedem Erinnern die „Geschichte“ neu und oft verändert abgespeichert wird. So wurden bei den Untersuchungen mit Unfallzeugen aus einem Leichtverletzten bei der zehnten Erzählung rasch zwei Tote. Ein „ganz sicher blaues“ Auto, war in Wirklichkeit rot gewesen.
Lassen Sie also stehen, wenn Ihr Kind eine andere Darstellung hat. Erzählen Sie Ihre eigene. Und konstatieren Sie vielleicht, dass die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte liegt.
Die Gründe für den Kontaktabbruch der Großeltern können vielfältig sein
1.7 Was sind Gründe dafür, wenn Großeltern den Kontakt ablehnen oder verhindern?
- Eltern berichteten: Nahezu jeder Kontakt mit unserem Sohn endet mit Vorwürfen. Für alles, was bei ihm schiefläuft, bekommen wir die Schuld. Ständig kommt er mit neuen Geschichten aus seiner Kindheit, die gar nicht stimmen. Das wollen wir uns nicht mehr antun.
- In unserem Familienleben hat sich Jahrzehnte lang alles um die Kinder gedreht. Wir haben viel zurückgesteckt und auf eigene Interessen und Hobbys verzichtet. Jetzt sind wir im Ruhestand und wollen viel nachholen. Wir haben einfach keine Lust auf Kindergeplärre und Schreierei. Die heutigen Kinder sind doch alle nicht erzogen und oft unerträglich. Nein, danke!
- Wir haben uns sehr darauf gefreut, Großeltern zu werden. Wir haben die junge Familie viel unterstützt, nicht nur finanziell. Erst gab es dafür Dank. In der Coronazeit wäre es oft wohl gar nicht anders gegangen. Aber unsere Hilfe wurde zunehmend zur Selbstverständlichkeit. Immer öfter wurden die Enkelkinder bei uns „geparkt“. Wehe, wir sagten mal, dass wir etwas anderes vorhatten. Wir haben uns nur noch ausgenutzt gefühlt. Die „Kinder“ müssen doch endlich mal auf eigenen Füßen stehen können!
Lesen Sie weiter:
Teil 2 – Wieder einen Weg zueinander finden
Teil 3 – Wenn gar nichts mehr zu gehen scheint
Aus dem Themenbereich: Familie
Autorin dieses Beitrages: Sybille Herold
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Reise ins Land der Großeltern
1.8 Unsere Buchempfehlung „Reise ins Land der Großeltern“
– Wie ein lebendiges Miteinander von Enkelkindern, Eltern und Großeltern gelingt
Autorin: Sybille Herold
Die frühere Diplom-Psychologin Sybille Herold ist heute selbst Oma und kennt drei Seiten des Zusammenlebens von Enkeln, Eltern und Großeltern.
Schon aus ihrer Zeit der Familienberatung bringt Sybille Herold die nötige Erfahrung mit und kann dementsprechend allen Beteiligten in dieser Dreierkonstellation ein wertvoller Ratgeber sein.
Es geht in dem Buch um die Frage, wie wir uns selbst an unsere Großeltern erinnern und welche Rolle Oma und Opa heute in der modernen Familie haben.
Wo gibt es feste Aufgaben, wo liegen Grenzen?
Und was ist möglich, wenn keine Kontakte gewünscht sind?
Auf einfühlsame Weise wird das Buch zum wertvollen Begleiter für alle wichtigen Fragen rund um die Großelternschaft.
1.9 Literaturhinweise und Quellennachweis
Döring, Dorothee – Das war’s: Wenn Erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Paulinus 2022
* Eikmann, Jörg – Eltern – das war’s. Warum Kinder plötzlich gehen. BoD 2012
Haarmann, Claudia – Kontaktabbruch in Familien: Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich erscheint. Kösel 2019
**Herold, Sybille – Reise ins Land der Großeltern. Wie ein lebendiges Miteinander von Enkelkindern, Eltern und Großeltern gelingt. Amazon/Kindle 2023
*** Pelz, Anna https://www.anna-pelz.de/category/eltern-kind-entfremdung/
https://www.stadtlandmama.de/ -> Großeltern, die keine Lust auf die Enkel haben
Schmidt, Sascha – Melde dich mal wieder!: Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern meiden. Woran es liegt – was Sie jetzt tun können. Humboldt 2021
Auch als Großeltern können Sie sich gern anonym, vertraulich und kostenlos an eine zuständige Erziehungs- und Familienberatungsstelle wenden -> https://www.bke.de/
Zusätzlich gibt es seit vielen Jahren die www.grosselterninitiative.de Website der BIGE = BUNDESINITIATIVE GROSSELTERN für von Trennung und Scheidung betroffener Kinder mit einem Beratungsangebot und zahlreichen regionalen Gruppen zu diesem Thema.
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